S. Bundi: Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer

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Titel
Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer. Eine Bündner Abgrenzungsgeschichte 1874–1974


Autor(en)
Bundi, Simon
Erschienen
Baden 2016: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
464 S.
von
Reto Weiss, Staatsarchiv des Kantons Zürich

Es ist bekannt, dass die Autonomie der Gemeinden in der Schweiz und besonders in Graubünden als hoher Wert gilt. In erster Linie denkt man dabei an die politischen Gemeinden und an ihre möglichst grosse Selbständigkeit gegenüber den übergeordneten staatlichen Ebenen. Gemäss dem Prinzip der Subsidiarität soll nicht zentralistisch von oben diktiert werden, was auf den unteren staatlichen Ebenen massgeschneidert gelöst werden kann. Etwas komplexer wird die Frage der Autonomie, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es verschiedene Arten von Gemeinden gibt, deren Kompetenzen sich überlappen können. Was bedeutet der Begriff in diesem Zusammenhang?

Das auf seiner Dissertation basierende Werk von Simon Bundi liefert lesenswerte Antworten auf die Frage. Die Studie beschäftigt sich mit der Geschichte der Bürgergemeinden Graubündens, wobei das Verhältnis zur politischen Gemeinde im Vordergrund steht. Es geht also um deren «Autonomie innerhalb der Autonomie» (S. 261). Die Beziehung zwischen den beiden Gemeindearten wurde erst 1974 im ersten Bündner Gemeindegesetz befriedigend geklärt, als die Bürgergemeinden zu Körperschaften des öffentlichen Rechts mit eigenen Organen wurden, die mit klar (auch grundbuchlich) definierten Eigentums- und Mitspracherechten ausgestattet waren. Dies konnte als grosser Sieg für die Bürgergemeinden gewertet werden. Während rund 100 Jahren war ihre Existenz nämlich von liberalen Befürwortern einer «Einheitsgemeinde» immer wieder in Frage gestellt worden.

Voraussetzung für ausufernde Diskussionen, Prozesse und Rekurse, insbesondere um Fragen des Eigentums am Gemeindeboden beziehungsweise der Gemeindegüter, war eine schwache rechtliche Grundlage, wie sie das 1874 erlassene Niederlassungsgesetz dar stellte. Es führte zwar im Prinzip die Einwohnergemeinde ein, zählte aber gleichzeitig Sonderrechte der Bürger auf. Im Nachhinein staunt man, wie viele Energien die Diskussionen um den «Gemeindedualismus» (Bürgergemeinde/Einwohnergemeinde) und die «Einheitsgemeinde» freisetzten. Und man staunt, dass es 100 Jahre dauerte, bis eine befriedigende rechtliche Lösung gefunden werden konnte. Mangels einer klaren kantonalen Norm vermochten lokale Entscheidungsträger in starkem Ausmass Tatsachen zu schaffen, die kaum mehr zu ändern waren.

Bundi schildert für den langen Zeitraum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins Jahr 1974 viele der Auseinandersetzungen. Dabei interessieren ihn besonders die zwischen der juristischen und der politischen Sphäre zirkulierenden Argumente und Leitvorstellungen der Parteien. Diskurstheoretisch geschult erkennt er im historischen Verlauf wechselnde Konjunkturen. Im 19. Jahrhundert wurde vor allem mit bürgerlichen Tugenden und dem «Bürgersinn» argumentiert. In der Zeit der geistigen Landesverteidigung machte die «Bodenständigkeit» Karriere als wichtiges Fahnenwort. Die Verbundenheit der ortsansässigen Bürger mit der Scholle, so die Vorstellung, biete Garantie für eine langfristiger angelegte Betreuung des Gemeindevermögens, als dies die politische Gemeinde leisten könne.

Die historischen Vorläufer der Bürgergemeinden waren die Gerichtsgemeinden und vor allem die Nachbarschaften des Freistaats der Drei Bünde im Ancien Régime: genossenschaftlich organisierte Dorfgemeinschaften, die in «kollektiver Freiheit» sich selbst regulieren wollten. Dazu gehörte auch der zunehmende Ausschluss oder zumindest die Benachteiligung von später zugezogenen Bei- und Hintersässen. Bundi zeigt die Bürgergemeinden anschaulich als Institutionen, die korporativ-altrepublikanische Vorrechte in eine Zeit, deren Staatsverständnis liberal-demokratisch geprägt ist, hinüberzuretten versuchen. Trotz individueller Rechte und Niederlassungsfreiheit der Schweizer Bürger sollte die Abgrenzung zwischen Gemeindebürgern und Zugezogenen erhalten bleiben. Noch in den 1860er Jahren verfügten beispielsweise in der Stadt Chur die Niedergelassenen (mehr als zwei Drittel der Einwohnerschaft) nicht über das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten. Sie forderten es mit einer Petition an die Schweizerische Bundesversammlung ein, in der es hiess, in Graubünden betrachte man es «als historisches Recht und gute Sitte, über die Niedergelassenen wie gewissermassen über eine rechtlose Menschenklasse zu herrschen und dieselbe finanziell auszunutzen» (S. 86).

Das bemerkenswert gut geschriebene und flüssig zu lesende Buch Bundis beschäftigt sich nicht nur mit Fragen der Verfügungsgewalt über den Boden im Kontext von Tourismus, Industrialisierung oder Wasserrechtsfragen. Zur Sprache kommt auch die Praxis der Einbürgerungen und der diese begleitende Diskurs. Weiter interessiert sich Bundi für die Frage, inwiefern die rechtliche Unterscheidung zwischen Bürgern und Niedergelassenen auch soziale «feine Unterschiede» konstituierte, die sich im Vereinsleben oder bei den in vielen Bündner Dörfern existierenden Knabenschaften auswirken konnten.

Eine besondere Stärke des Buchs liegt in der regionalen Differenzierung. In Grau bünden spielen die Bürgergemeinden insbesondere in der katholischen Sonderkultur der Surselva und des Oberhalbsteins eine weit geringere Rolle als im reformiert geprägten Rheintal. Es gab und gibt nicht einmal in allen (politischen) Gemeinden konstituierte Bürgergemeinden. Bundi formuliert für die frappanten Unterschiede plausible Hypothesen und vertieft so unser Verständnis der Bündner Geschichte.

Bundis Werk fokussiert auf bestimmte Aspekte der Geschichte der Bürgergemeinden. Die Leserinnen und Leser, die sich für das konkrete (wirtschaftliche) Funktionieren der Bürgergemeinden interessieren, werden in Bundis Werk einschlägige Angaben und Zahlen vermissen: Inwiefern profitierte der einzelne Bürger, die einzelne Bürgerin wirtschaftlich von seinem/ihrem Status? Um wie viel höher waren die Taxen, welche ein nicht im Ort verbürgerter Bauer für die Bestossung der Alpen oder die Teilnahme an der «Gemeinatzung» im Herbst und Frühling zu bezahlen hatte?1

Die grösste Lücke in Bundis Buch bildet das explizite Aussparen des Armen- und Fürsorgewesens, das neben der Einbürgerung bis in die letzten Jahrzehnte die wesent lichste Kompetenz der Bürgergemeinden darstellte und häufig den grössten Ausgabeposten ausmachte. Die Bürgergemeinden bestanden und bestehen immer nur aus den ortsansässigen Bürgern (und, mit Einschränkungen, Bürgerinnen). In interessantem Kontrast dazu waren im Bereich des Armenwesens bis in die letzten Jahrzehnte die Bürgergemeinden auch für die ortsabwesenden Bürgerinnen und Bürger zuständig. Für Graubünden soll diese Lücke durch ein voraussichtlich dieses Jahr erscheinendes Werk über Fürsorge zwischen politischer und Bürgergemeinde geschlossen werden.

Als kleine Kritik an einem insgesamt lesenswerten und sehr lesbaren Buch sei noch vermerkt, dass neben dem Gemeinderegister ein Personenregister ebenfalls nützlich gewesen wäre.

1 Für solche Fragen kann exemplarisch das folgende Werk empfohlen werden: Ortsbürgergemeinde St. Gallen (Hg.), Die Ortsbürgergemeinde St. Gallen, St. Gallen 2017.

Zitierweise:
Weiss, Reto: Rezension zu: Bundi, Simon: Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer. Eine Bündner Abgrenzungsgeschichte 1874–1974, Baden 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (1), 2020, S. 154-156. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00054>.

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